Von Vandana Shiva – Deutsche Welle, 17. November 2017 | Quelle | English, Italiano
Die Weltklimakonferenz in Bonn muss den Vertrag des Gipfels von Paris mit Leben füllen. Dazu ist es nötig, die Funktionsweise von Kohlenstoff zu verstehen und entsprechend zu handeln, meint die indische Umweltaktivistin.
In den indischen Staaten Assam, Bihar und Uttar Pradesh haben die heftigsten Monsunregen seit Jahren die Häuser von mehr als 40 Millionen Menschen vernichtet. Wir wurden Zeugen der zerstörerischen Fluten in Mumbai und Houston, der verheerenden Waldbrände in Kalifornien und der extremen Hurrikane, die eine Spur der Verwüstung auf Puerto Rico und anderen Karibikinseln hinterlassen haben. Immer deutlicher wird: Die Menschheit hat die Grenzen der ökologischen Belastbarkeit der Erde längst überschritten und wird immer heftiger damit konfrontiert, was es heißt, wenn sie die Gesetze der Natur wieder und wieder verletzt.
Wenn wir in die sich selbst regulierenden Klimasysteme der Erde eingreifen, verursachen wir Chaos und Unsicherheit. Wir sind verantwortlich für einen in seinen Auswirkungen nicht abschätzbaren Klimawandel, aus dem wir uns nicht mehr durch geotechnische oder genetischen Fortschritte “herausmanipulieren” können. Ökosysteme entstehen, passen sich an und regenerieren sich; aber sie werden nicht manipuliert.
Der Kohlenstoffzyklus ist erheblich gestört
In den vergangenen 200 Jahren, einer extrem kurzen Epoche der Menschheitsgeschichte, haben wir den Planeten systematisch zerstört. Ursache ist ein Wirtschaftssystem, das von Kohle, Öl und Gas angetrieben wird, sowie ein Wissenssystem, das von mechanistischen, reduktionistischen und materialistischen Paradigmen bestimmt wird. Die Förderung und Verbrennung fossiler Brennstoffe und die damit verbundene unkontrollierbare Emission von Treibhausgasen in die Atmosphäre führt zu einer erheblichen Störung des Kohlenstoffzyklus und damit zu einer Destabilisierung des Weltklimasystems. Oder, wie es die Klimaforscher Steve McKevitt and Tony Ryan es in ihrem Buch “Project Sunshine” beschrieben haben: Alle Vorräte an Kohle, Öl und Gas sind über einen Zeitraum von 600 Millionen Jahren entstanden. Wir verbrennen in nur einem Jahr die Menge an Ressourcen, für deren Entstehung die Natur 20 Millionen Jahre brauchte.
Um den Umschwung zu schaffen, müssen wir mehr in unsere Landwirtschaft und Wälder investieren, in den Ausbau von Biomasse und Biodiversität. Je mehr wir dort tun, desto mehr werden unsere Pflanzen Kohlenstoff und Stickstoff aus der Atmosphäre binden und sowohl den Gehalt als auch die Neuemission von Schadstoffen in unserer Luft reduzieren. Kohlenstoff wird über Pflanzen in die Erde zurückgeführt. Deshalb besteht zwischen Klimawandel und Biodiversität eine so enge Verbindung. Je mehr wir in Biomasse und Biodiversität investieren, desto mehr organische Materie führen wir so in die Erde zurück. Dies kehrt auch den weltweiten Trend zur Wüstenbildung um, einen der Hauptgründe für die Verknappung von menschlichem Lebensraum, durch welchen immer mehr soziale Unruhen und Flüchtlingsströme verursacht werden.
Um den zerstörten Kohlenstoffkreislauf zu reparieren, müssen wir uns der Saat, dem Boden und der Sonne widmen. Wir müssen durch Pflanzen den Anteil an “lebendem Kohlenstoff” erhöhen. Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass lebender Kohlenstoff Leben schenkt und toter, fossiler Kohlenstoff hingegen Lebensprozesse zerstört.
Nicht weniger Kohlenstoff – der Richtige muss es sein!
Wir müssen uns bewusst werden, dass wir mit der Erhöhung des Anteils an “lebendem Kohlenstoff” auf der Erde zugleich das Wohlergehen der gesamten Menschheit fördern. Je mehr wir pflanzen, desto mehr gewinnen wir. Oder umgekehrt: Je mehr wir die Erde ausbeuten, desto mehr werden wir sie verschmutzen – und damit verlieren. Fossile Brennstoffe müssen unter der Erde bleiben. Das ist unsere ethische und ökologische Verpflichtung.
Aus diesem Grund ist der Begriff der “Dekarbonisierung” – ohne eine genauere Unterscheidung zwischen “lebendem” und “totem” Kohlenstoff – wissenschaftlich und ökologisch irreführend. Wenn wir die Wirtschaft dekarbonisieren würden, hätten wir auch keine Pflanzen, also keinen “lebenden” Kohlenstoff. Wir hätten kein Leben mehr auf der Erde, das lebenden Kohlenstoff produziert und von ihm erhalten wird. Ein dekarbonisierter Planet wäre ein toter Planet. Wir müssen vielmehr die Welt “rekarbonisieren” – mit lebendem Kohlenstoff, mit Agrarökologie und biologischer Landwirtschaft. Dadurch bekämen wir fruchtbarere Böden, die mehr Nahrung produzieren und mehr Wasser binden könnten. Wir würden das Risiko von Dürren und Fluten verringern.
Klimawandel, extreme Wetterereignisse und Naturkatastrophen sind immer öfter auftretende Warnungen, die uns daran erinnern, dass wir Menschen ein Teil dieser Erde sind und nicht getrennt von ihr leben können. Jeder Gewaltakt, den wir unserem Ökosystem antun, gefährdet auch unser eigenes Leben.
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